Preisgekrönter Text

Preisträgerin 2024: Nathalia Afanador

Einsendung Nr. 10
Nathalia Andrea Afanador Acevedo aus Kolumbien

Am Teetisch

Wir sitzen am Teetisch, aber es ist kein Teetisch. Maria hat sich entschieden, ihn so zu nennen, aber es ist nur ein alter, mit Stoff bedeckter Schreibtisch. Wir benutzen ihn nur für Zwischenmahlzeiten, wo wir Tee trinken und Kekse essen. Manchmal gibt es jedoch besondere Ereignisse, wie heute, bei denen wir uns an den Tisch setzen, um etwas zu feiern. Ich kam bei Maria mit einem Tiramisu an, weil ich dachte, wir sollten nicht nur mit Keksen und Tee feiern. Maria kocht Wasser auf dem Herd, und wir warten, bis Anita kommt. Sie, Anita, hat uns gesagt, dass wir heute etwas feiern sollten, aber sie hat uns nicht gesagt, was. Vielleicht wird sie uns sagen, wenn sie ankommt. In letzter Zeit hat sie sich ungewöhnlich verhalten. Es ist schwer, mit ihr darüber zu reden. Deshalb ist es eine Befreiung, dass sie es war, die uns heute in Marias Haus eingeladen hat. Dieses Haus ist seit vielen Jahren unser Treffpunkt, jeden Mittwochnachmittag kommen wir hierher, egal was passiert. Aber letzten Mittwoch ist Anita nicht gekommen und hat uns nicht gesagt, warum, und sie ist auch bis zum nächsten Tag nicht an ihr Handy rangegangen.

Gestern rief sie uns beide an, um uns zusagen, dass wir heute, am Freitag, auf jeden Fall zusammen feiern müssen. Ihre Stimme zitterte, und sie klang nervös, und sie legte auf, bevor wir ihr weitere Fragen stellen konnten. Jetzt müssen wir einfach nur noch auf sie warten. Maria bleibt stumm in der Küche, nur das Blubbern des Wassers im Topf und das Rauschen des Windes durch die halb geöffneten Fenster sind zu hören. Normalerweise ist es Anita, die das Gespräch anfangs führt. Wir sprechen über unser Studium oder die Nebenjobs, die wir haben, manchmal auch über unsere Familien. Wir sprechen nie über Pläne oder die Zukunft, was für alle sehr belastend ist. Wir alle drei wissen, dass wir Tausende von Möglichkeiten haben, aber keine davon ist für uns erreichbar. Deshalb ziehen wir es vor, über die Gegenwart zu sprechen, über das, was wir bereits in unseren Händen halten. »Soll ich Kaffee kochen?«, fragt Maria aus der Küche, »damit wir nicht müde werden, wenn wir auf Anita warten.« »Ja«, antworte ich und erhebe meine Stimme so, dass man sie bis in die Küche hören kann. Anita mag keinen Kaffee, ich bevorzuge süßen Tee, und Maria scheint keine Präferenz zu haben, aber wir trinken immer Tee. Maria muss denken, dass Anita sich verspäten wird, oder vielleicht denkt sie, dass sie nicht kommen wird und macht deshalb Kaffee. In der Küche hört das Wasser auf zu blubbern, und der Kaffee wird zubereitet. Kurz darauf kommt Maria mit zwei Tassen an den Teetisch.

»Was sollen wir denn feiern?«, fragt Maria, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt und einen Schluck Kaffee getrunken hat, »hat Anita vielleicht endlich das Stipendium bekommen, das sie wollte?« »Vielleicht ist das der Grund, warum sie am Mittwoch nicht kommen konnte«, antworte ich und nehme auch einen Schluck Kaffee. Maria hat keinen Zucker hinzugefügt. »Wenn ja, würde sie für eine lange Zeit ins Ausland gehen, das hat sie sich schon immer gewünscht. Ich weiß nicht, was wir tun werden, ich habe sie seit einer Woche nicht mehr gesehen und vermisse sie schon sehr, ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn sie für Jahre weg ist«, sagt Maria, während sie die Tasse in die Hände nimmt, um sich die Hände zu wärmen. »Vielleicht sollte ich auch sparen und in ein weit entferntes Land gehen. Denkst du, dass ich uns drei dann nicht vermissen würde?« »Vielleicht ist das Gefühl überall auf der Welt dasselbe. Es könnte aber auch etwas anderes sein, was Anita feiern will, das wissen wir noch nicht genau«, sage ich und stelle die Kaffeetasse auf den Teetisch. »Ist es möglich, dass sie kurz vor ihrem Universitätsabschluss steht. Ich stehe auch kurz vor dem Abschluss, aber das ist für mich kein Grund zum Feiern, aber vielleicht für Anita.«

»Warum solltest du nicht feiern wollen?«, fragt Maria und nimmt einen weiteren Schluck Kaffee, ohne sich darum zu sorgen, dass der Kaffee bitter ist. »Weil ich nach dem Studium etwas tun muss, aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Es gibt hier so viele Möglichkeiten, aber auch Beschränkungen. Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendetwas, was ich plane, für mich realistisch sein wird. Vielleicht sollte ich auch sparen und weggehen«, antworte ich, und Maria sieht mich besorgt an.

»Es ist wahr, es gibt viele Dinge, die für uns nicht möglich sind, es scheint nichts in der Zukunft für uns zu geben. Wir müssen vielleicht weiterhin Teilzeitjobs annehmen, um zu überleben, aber diese Situation ist noch nicht eingetreten, und so wie sie eintreten kann, kann sie nicht eintreten. Vielleicht können wir gute Jobs bekommen, mehr studieren und ein angenehmes Leben führen, vielleicht aber auch nicht, aber das wissen wir noch nicht«, sagt Maria, während sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützt, um mir näher zu sein. »Das stimmt, aber es stimmt auch, dass sich alles sehr schnell und immer zum Schlechten verändert. Selbst wenn wir daran denken, von hier wegzugehen, wird sich alles weiter so verändern wie jetzt. Man denkt, dass man für Orte wichtig ist, dass die Welt sich ohne einen nicht bewegen kann, dass man für Orte genauso wichtig ist wie Orte für einen. Aber nichts davon ist wahr, wenn wir gehen, wenn wir bleiben, wenn wir mit kleinen Jobs überleben, wenn wir es schaffen, gute Jobs zu bekommen, wenn wir es schaffen, mehr zu studieren und gute Profis zu werden, ändert sich nichts in der Welt. Ob wir leiden, ob wir lachen, ob wir weinen oder ob wir uns hier jeden Mittwoch sehen oder nicht, die Welt ist immer noch anders, jedes Mal, wenn wir die Augen öffnen«, sage ich und merke, dass ich noch nie die Gelegenheit hatte, so etwas zu sagen.

»Ich verstehe dich, aber vielleicht liegt das in der Natur der Dinge, alles kommt zu einem Ende und das sind die Veränderungen, sowohl gute als auch schlechte Dinge haben ein Ende. Ich glaube, wir denken, die Dinge ändern sich zum Schlechten und zu schnell, weil wir sie nicht als das sehen, was sie sind«, sagt Maria mit Blick auf den Teetisch und das abgenutzte Stoffstück, das ihn bedeckt. »Deshalb denken wir, dass die Dinge ewig sein sollten, dass das Ende von etwas Gutem schlecht ist und das Ende von etwas Schlechtem eine Sorge weniger bedeutet. Vielleicht denken wir deshalb, dass alles für uns unmöglich ist, weil wir an das denken, was außerhalb unserer Hände liegt und nicht an das, was wir jetzt in der Hand haben. Weißt du was? Lass uns das Tiramisu jetzt essen.«

Ich nicke und stehe auf, um das Tiramisu aus dem Kühlschrank zu holen. Die Kälte umhüllt meine Hände und ich fühle mich seltsam, als ob sich der Ort, an dem ich mich befinde, verändert hätte, als ob ich mich selbst verändert hätte. Obwohl alles gleich aussieht, fühle ich mich anders. Ich stelle das Dessert auf den Tisch, und Maria schneidet es in Portionen, um es zu servieren. Ich nutze die Gelegenheit und nehme einen Schluck von meiner Tasse Kaffee, die bereits abgekühlt ist. Der bittere Geschmack gefällt mir, er schmeckt nach Leben, er schmeckt nach Zukunft, ich will mehr trinken. »Vielleicht ist es das, was Anita feiern will, dass die Dinge zu Ende gehen«, sage ich und nehme einen Bissen vom Tiramisu, »denkst du das auch, Maria?«

Maria nickt, weil sie den Mund voller Tiramisu hat, aber sie lächelt trotzdem komisch und bejahend. Jetzt weiß ich, dass sie bittere Dinge mag, ich mag auch bittere Dinge. Ich frage mich, ob Anita vielleicht auch den bitteren Geschmack von Kaffee mag und die Natur der Dinge, über die Maria gesprochen hat. Wir sprechen über die Zukunft und darüber, was wir wirklich tun wollen, und wir wissen, dass nichts davon eine Trauer ist. Wir sitzen beide am Teetisch, aber wir wissen, dass es kein Teetisch ist.

Laudatio von Prof. Dr. Justus Fetscher,
Juryvorsitz und -sprecher:

Freundinnen im studentischen Alter treffen sich, es ist improvisierte Routine. Eine abgenutzte Stoffbahn macht den Schreib- zu einem Teetisch, der keiner ist. Ungewöhnlich an dem Treffen ist nur, dass Anita, die Dritte im Bunde, auf sich warten lässt, obwohl sie ange­kündigt hatte, es gebe für die Runde etwas zu feiern. Diese unauf­fällige, fast ganz alltäglich wirkende Situation bringt dann grund­sätzliche Fragen und Zweifel zur Sprache, wie sie Jugendliche auf der ganzen Welt beschäftigen. Haben sie nicht „Tausende von Möglich­keiten“, von denen aber keine erreichbar ist? Wäre Erfolg, den sie haben könnten – Anita hat sich um ein Stipendium beworben –, wirklich ein Grund zum Feiern? Was steht für sie in Aussicht? Braucht sie der Ort, an dem sie leben, nicht? Die Note, auf den das Gespräch hinausläuft, ist die einer leichten Bitterkeit. Trauer darüber wäre zu schwer. Und dass Anita nicht kommt, scheint kein Grund zur Enttäuschung. Die beiden, die auf sie gewartet haben, finden im Zeichen des Eindrucks von gegenwärtiger Vergeblichkeit zusammen, ohne zu verzweifeln.

Die kurze, atmosphärisch dichte Skizze von Nathalia Afanador hat die Preisfrage des Wettbewerbs auf beein­druckende Weise gelöst. Sie braucht keine Schlagworte, keine Stereotype, keine Begriffe der Sozio­psychologie, um die Zukunfts­ängste der Jungen zu vermitteln. Stattdessen wählt sie einen eher indirekten, leisen, insinuativen Darstellungsmodus, der sich mit dem ihm eigenen, literarischen Ton umso nachdrücklicher einprägt.

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